Menschen mit Suchterkrankungen werden von der Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert. Abhängigkeiten sind jedoch keine Charakterschwäche, sondern körperlich fixierte Erkrankungen. Experten fordern soziale Offenheit und verbesserte Therapieangebote.
Rund 36 Prozent der Bevölkerung halten Sucht für eine Charakterschwäche und somit für eine selbstverschuldete Krankheit. Ursachen und Mechanismen sind jedoch wissenschaftlich erklärbar. „Eine Suchterkrankung basiert auf einer Fehlsteuerung des Belohnungssystems im Gehirn. Suchtmittel aktivieren verschiedene Botenstoffe, die zum Beispiel Wohlbefinden oder Euphorie auslösen. Dadurch lernt das Gehirn relativ schnell, ein bestimmtes Suchtmittel als positiven Reiz wahrzunehmen. Fehlt dieser Reiz, empfindet es eine Art Belohnungsdefizit – mit der Folge, dass der unkontrollierte Wunsch nach dem Suchtmittel entsteht. Sucht ist also keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit, die im Gehirn nachgewiesen werden kann“, erklärt Prof. Falk Kiefer, Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Diskriminierung verhindert erfolgreiche Therapie
Trotz der wissenschaftlichen Erklärbarkeit begegnet die Gesellschaft Menschen mit Suchterkrankungen mit Vorurteilen. Dadurch erschwert sie ihnen ein unkompliziertes Agieren in der Gesellschaft– egal, ob auf dem Wohnungsmarkt oder bei der Arbeitssuche. Nicht selten führt soziale Diskriminierung dazu, dass die Betroffenen Hilfe frühzeitig ablehnen und sich aus ihrem gesellschaftlichen Umfeld zurückziehen. Die Aussicht auf ein Durchbrechen des Teufelskreises sinkt damit erheblich. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) will dies ändern.
Missstände im Gesundheitswesen
Auf dem DGPPN-Kongress Ende November forderten die Experten mehr Offenheit und Verständnis für Menschen mit Suchterkrankungen. Auch das Gesundheitswesen müsse seine Therapieangebote in allen Stadien der Versorgung verbessern. So bemängelt der stellvertretende Leiter des DGPPN-Fachreferates für Abhängigkeitserkrankungen Dr. Heribert Fleischmann den Zeitmangel für Diagnostik und Behandlungsplanung oder die Entzugsbehandlungen, die aufgrund von Eingriffen durch die Kostenträger noch nicht ausgeschöpft werden. Die leistungsschwachen Vernetzungen mit dem Suchthilfesystem oder die zu undifferenzierten Hilfeleistungen für Betroffene sind ebenfalls Gegenstand der Kritik.
Stärkere Integration der Suchterkrankungen ins Gesundheitsmodell
Die Mitglieder der DGPPN liefern dem Gesundheitswesen konkrete Verbesserungsvorschläge. „Wir müssen Suchterkrankungen qualifiziert in das Gesundheitssystem integrieren und neben einem verbesserten Behandlungszugang auch einen nahtlosen Übergang in die Nachsorge sicherstellen. So genannte Stepped Care-Modelle könnten hier zukunftsweisend sein. Gleichzeitig müssen wir Suchterkrankungen noch stärker thematisieren. Dabei sind alle Berufsgruppen gefordert, die mit Suchtkranken in Kontakt kommen – und dies schon sehr frühzeitig. Durch gezieltes Fragen – zum Beispiel beim Hausarzt – lassen sich ein riskanter Konsum oder eine Abhängigkeit frühzeitig eruieren und Gegenmaßnahmen oder die Überweisung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie einleiten. Ein offensiver Umgang mit der Erkrankung trägt längerfristig auch zu deren Entstigmatisierung bei“, erklärt DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth.
Darüber hinaus betont Dr. Fleischmann, dass ein Therapieerfolgt nicht erst mit Abstinenz beginnt: „In der Therapie werden zwar gute Resultate erzielt, doch die öffentliche Meinung setzt Therapieerfolg meistens mit Abstinenz als Erfolgskriterium gleich und übersieht, dass diese Therapieziel aus unterschiedlichsten Gründen nicht für alle Suchtkranke geeignet ist.“