Dies liegt zum einen daran, dass Menschen tatsächlich auf unterschiedlichen Wegen zur Gesundheit gelangen. Aber Studien zeigen auch dies: Die oft erstaunliche Varianz der Therapieempfehlungen liegt mit daran, dass es mit dem ersten wünschenswerten Ziel – der Behandlung nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft – in der Praxis oft hapert.
Keine Zeit für Fortbildung?
Beispiel Hormonersatztherapie nach den Wechseljahren: Obwohl eine weltweite Untersuchung im Jahr 2002 in einer großen Doppelblindstudie (Women’s Health Initiative) nachwies, dass diese Therapie das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Brustkrebs erhöht, und dies in der ärztlichen Fachpresse ausgiebig vorgestellt wurde, verordneten deutsche Haus- und Frauenärzte im Jahr 2004 noch immer 459 Millionen Tagesdosen. Noch erstaunlicher: 37 % der niedergelassenen Gynäkologen in Deutschland glaubten nach einer Umfrage noch im Jahr 2005 daran, dass die Hormone vor Herzinfarkt und vor Altersdemenz schützen würden (beides ist widerlegt). Bei den über 60-jährigen Ärzten gingen sogar zwei Drittel von einem „Schutz gegen Alterung“ aus; ein Anspruch, der ebenfalls längst widerlegt worden ist
Bis eine neue wissenschaftliche Erkenntnis in der Haus- und Facharztpraxis flächendeckend umgesetzt wird, vergehen nach Schätzungen im Schnitt 10 Jahre. Wie brisant dieser lange Bremsweg sein kann, zeigen die Zahlen. Das wissenschaftliche Institut der AOK schätzt, dass der breite Einsatz der Hormonersatztherapie in den letzten Jahrzehnten für bis zu 25 000 zusätzliche Brustkrebsfälle verantwortlich gewesen ist
Dass neue Erkenntnisse so langsam in die Praxen gelangen, liegt an mehreren Faktoren:
- Das Informationsangebot für Ärzte ist überwältigend – jede Arztpraxis erreicht pro Werktag ca. 1 kg an gedruckter Information. Die wirklich wichtigen Dinge gehen da leicht unter.
- Mindestens ein Fünftel der Ärzte bildet sich – leider – überhaupt nicht aktiv fort, meist aus Zeitmangel: Sie lesen keine Fachzeitschriften mehr und besuchen auch keine Seminare oder Kongresse Um dem abzuhelfen, hat der Gesetzgeber zwar eine Weiterbildungspflicht eingeführt – die ist aber derzeit noch mit minimalem Aufwand zu erfüllen.
- Die Mehrzahl der Ärzte vertraut den Informationen von Herstellern, die durch die Besuche der Pharmavertreter persönlich überbracht werden. Die Vertreter achten darauf, den Arzt für die Informationen zu sensibilisieren, die für ein bestimmtes „Verschreibungsverhalten“ wichtig sind – Informationen, die unerwünscht sind (wie z. B. das obige Beispiel, das auf die Unterlassung bisheriger Arzneiverordnungen hinausläuft), werden nicht verbreitet.
Zwei Beispiele
Wie sehr die Einstellung des Arztes seine Therapievorschläge beeinflusst, zeigt eine Umfrage unter amerikanischen Frauenärzten, nach der fast die Hälfte einen Kaiserschnitt für die Geburt ihres eigenen Kindes bevorzugen würde. Dagegen wünschen nur 2 % der norwegischen Gynäkologen für ihr eigenes Kind einen Kaiserschnitt Tatsächlich werden in den USA doppelt so viele Kinder durch Kaiserschnitt entbunden wie in Norwegen.
Zweites Beispiel: Die Stiftung Warentest hat untersucht, welchen Rat Patienten zur Prostatakrebsvorsorge und zur Durchführung des umstrittenen PSA-Tests bekommen. Die von Berliner Urologen gegebenen Ratschläge klafften radikal auseinander und entsprachen in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht den Empfehlungen der Fachgesellschaft Was Ärzte als „gut“ oder „richtig“ ansehen und dem Patienten als „gut“ oder „richtig“ schildern, hat also nicht nur mit Wissenschaft, sondern auch mit ihren Werten, Meinungen und ihrer beruflichen Prägung zu tun.
Indizien für den Arzt Ihres Vertrauens
Der Patient kann nur schwer erkennen, ob ein Arzt sich regelmäßig fortbildet und in seinem Wissen auf dem aktuellen Stand ist. Dennoch gibt es Hinweise, ob Sie Ihrem Arzt auch in diesem Punkt vertrauen können, z. B. wenn:
- Sie Ihren Arzt nach neuen Heilmethoden fragen, von denen Sie im Internet oder Fernsehen gehört haben, und Ihr Arzt diese nicht pauschal abqualifiziert, sondern er Ihnen begründen kann, warum ein neues Medikament in Ihrem konkreten Fall nicht die richtige Wahl ist.
- Sie, frisch aus dem Krankenhaus entlassen, wieder zu Ihrem Fach- oder Hausarzt gehen, dieser die dortige Medikation und Therapievorschläge weder kommentarlos 1:1 übernimmt, noch alles über den Haufen werfen möchte, sondern mit Ihnen genau durchgeht, was warum für Sie verordnet wurde, und welche Positionen er ggf. für das erste Rezept ändern möchte.
- Seine Empfehlungen im Wesentlichen zu den Empfehlungen passen, die Ihnen ein anderer Facharzt gibt.
- Er alternativmedizinische Verfahren, mit denen Sie sich im Fall einer chronischen Erkrankung vielleicht selbst behandeln wollen, in ihren Möglichkeiten, aber auch Risiken einschätzen und Sie differenziert dazu beraten kann.
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