Die Medizin früherer Jahrhunderte basierte stärker als die heutige auf dem Placebo-Effekt. Vielen Kranken wurde zwar anscheinend geholfen, die Heiler schritten damals allerdings mit heutzutage grausam und sinnlos scheinenden Methoden zur Tat. Aber wer weiß schon, ob in 50 Jahren nicht auch vieles von dem, was Ärzte, Heilpraktiker, Krankengymnasten und Psychotherapeuten heute tun, als sinnlos und unnötig quälend beurteilt werden wird?
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Placebos wurden bis Anfang des 20. Jahrhunderts großzügig eingesetzt, und oft waren die dadurch erzielten unspezifischen Heilwirkungen alles, was Ärzte ihren Patienten bieten konnten. Der häufige Gebrauch lag zum einen daran, dass die früheren Ärzte ihre Medikamente selbst herstellten und abgaben, zum anderen daran, dass der Gedanke, Ärzte seien ihren Patienten gegenüber der Wahrheit verpflichtet, erst neueren Datums ist. Bis weit in die Neuzeit hingen Ärzte der Platonschen Idee von der medizinischen Lüge an, nach der auch Täuschungen erlaubt seien, solange sie dem Patienten Erleichterung verschaffen.
Dies ist heute nicht mehr erwünscht: Patienten wollen ehrlich und umfassend informiert werden, und „nutzlose“ Rituale (etwa das intensive Halten der Hand bei der Visite) und Symbole (etwa: der gestärkte weiße Kittel und eine Aura von Autorität) werden von vielen Patienten abgelehnt.
Was unspezifische Wirkungen für die Medizin bedeuten
Die Mediziner verstehen zunehmend, wie stark der ehemals belächelte Placebo-Effekt die Medizin beeinflusst – und verstehen damit einige ihrer eigenen Probleme besser:
- Ein medizinisches Angebot kann noch so gut sein – wenn es den Erwartungen des Patienten nicht entspricht, wird es nicht akzeptiert werden. Auch wirksame Medizin muss vermittelt werden.
- Medizin wirkt durch Vertrauen – wer sich in guten Händen fühlt, fühlt sich besser. Viele Errungenschaften der modernen Medizin, von den Beipackzetteln über die Aufklärungspflicht bis zu Abrechnungsziffern aber untergraben ungewollt die Vertrauensbildung. Und selbst die immer weiter fortschreitende Spezialisierung hat hier ihre Schattenseiten: Die Strahlkraft des Spezialisten hat vor allem den Hausarzt in die Defensive abgedrängt, der heute eben längst nicht mehr für die „ganze Welt“ der Medizin steht. In der Zukunft wird er aber mehr denn je gebraucht werden, um die Vertrauens- und Glaubwürdigkeitslücke, die die hoch spezialisierten Mediziner notwendigerweise hinterlassen, zu schließen.
- Eine weitere Entwicklung erschwert die Vertrauensbildung: Die heutigen Heilstätten sind anonym und abweisend geworden – und das unterscheidet sie ganz stark vom Ansatz der „magischen“ Medizinsysteme, in denen heilende Zeremonien immer speziell für den Patienten durchgeführt wurden, und die Verwandte und nahe stehende Menschen immer mit einschlossen. Besonders im Krankenhaus hat es der Patient mit „Heilern“ zu tun, die oft nicht einmal seinen Namen kennen – und seine Familie, mit der er ein ganzes Leben lang Freud und Leid geteilt hat, bleibt oft genug außen vor.
Sondertext: Das Placebo-Dilemma der modernen Medizin – zwei Beispiele
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