Polyglobulie (Erythrozytose): Überschießende Bildung roter Blutkörperchen. Eine Polyglobulie kann als primäre, eigenständige Erkrankung auftreten, dann spricht man von Polyzythämie oder genauer Polycythaemia vera. Häufiger tritt eine Polyglobulie als Folge einer anderen Krankheit auf. Dies nennt man sekundäre Polyglobulie. Beide Erkrankungsformen verursachen eine Eindickung des Blutes, die zu Durchblutungsstörungen führt. Die Betroffenen leiden dadurch z. B. an Kopfschmerzen, Schwindel und Ohrensausen. Auch Juckreiz kann auftreten. Behandelt wird die Polyglobulie durch regelmäßigen Aderlass, bei dem Blut entnommen und durch Flüssigkeit ersetzt wird. Bei der Polyzythämie werden zusätzlich Medikamente verordnet, die die Bildung neuer Blutkörperchen unterdrücken. Bei der sekundären Polyglobulie steht die Behandlung der auslösenden Krankheit im Vordergrund. Die Prognose variiert je nach der auslösenden Ursache. Ohne Behandlung drohen Gefäßverschlüsse bis hin zum Schlaganfall oder Herzinfarkt.
- Gerötetes Gesicht, blaurote Lippen
- Ohrensausen oder Ohrgeräusche
- Kopfschmerzen, Schwindel
- Juckreiz, v. a. nach Wasserkontakt und durch Reibung
- Empfindungsstörungen in der Haut wie Kribbeln oder Ameisenlaufen
- Plötzlich auftretende Schmerzen, Rötung und Schwellung der Finger oder der Zehen
- Krampfartige Schmerzen in den Beinmuskeln beim Laufen.
In den nächsten Tagen, wenn die oben genannten Symptome regelmäßig oder dauerhaft auftreten.
Sofort den Notruf wählen bei plötzlicher Luftnot, Schmerzen im Brustkorb, Lähmungen, Sprach- oder Sehstörungen.
Patienten mit Polyzythämie haben oft eine auffallende Gesichtsröte, die nicht selten als Zeichen von Gesundheit fehlgedeutet wird.
Georg Thieme Verlag, Stuttgart
Krankheitsentstehung
Rote Blutkörperchen (Erythrozyten) werden im Knochenmark gebildet und von dort in den Blutkreislauf freigesetzt. Im Blut zirkulieren sie unermüdlich durch den Körper und transportieren dabei den Sauerstoff aus der Lunge in die Organe und Gewebe. Die Lebensdauer eines roten Blutkörperchens beträgt etwa 120 Tage. Dann wird es von der Milz aus dem Blut herausgefiltert und abgebaut. Die Nieren überwachen den Sauerstoffgehalt des Blutes. Sinkt dieser zu stark ab, schütten sie ein Hormon aus, das Erythropoetin (EPO). Dieses Hormon gibt dem Knochenmark das Signal, mehr rote Blutkörperchen zu bilden. Auf diese Weise werden bei Gesunden die Bildung und der Abbau der Erythrozyten in Balance gehalten.
Eine überschießende Bildung roter Blutkörperchen kann 3 verschiedene Auslöser haben. Entweder es ist zu wenig Sauerstoff oder zu viel EPO im Körper oder das Knochenmark bildet von sich aus zu viel.
Ursachen und Risikofaktoren
Zu wenig Sauerstoff. Die häufigste Ursache für ein Zuviel an roten Blutkörperchen ist das Rauchen, gefolgt von chronischen Lungen- und Herzerkrankungen, die einen Sauerstoffmangel (Hypoxie) auslösen.
Auch bei Bergsteigern oder Urlaubern im Hochgebirge kommt es zu einem Sauerstoffmangel im Gewebe, weil in den Höhenlagen weniger Sauerstoff in der Luft ist. Auch diese Personen bilden dann mehr rote Blutkörperchen, um den Sauerstoffmangel auszugleichen. Man spricht in dem Fall von einer physiologischen Höhenpolyglobulie, denn es handelt sich dabei nicht um eine Krankheit, sondern um einen normalen Kompensationsmechanismus des Körpers.
Zu viel Erythropoetin. Die Nieren sind der Hauptbildungsort für EPO. Wenn zu viel EPO im Körper ist, liegt das meist daran, dass ein Nierentumor oder seltener eine andere Nierenerkrankung die Bildung des Hormons ankurbelt. Auch die Leber, das Gehirn, die Milz, die Gebärmutter und die Hoden bilden EPO, deshalb können auch Tumoren in diesen Organen einen EPO-Überschuss hervorrufen. Die Hormonbildung kann aber auch "von außen" angeregt werden, z. B. durch Anabolika oder eine Behandlung mit männlichen Hormonen (Androgene). Nicht zuletzt spritzen sich manche Sportler*innen EPO als Dopingmittel.
Neben Erythropoetin stimuliert auch das Hormon Cortisol die Bildung roter Blutkörperchen. Deshalb kann auch ein Zuviel an Cortisol, z. B. beim Cushing-Syndrom, eine Polyglobulie verursachen. Diese Patient*innen haben aber zahlreiche andere, z. T. schwerwiegende Beschwerden und die Polyglobulie steht im Hintergrund.
Überaktives Knochenmark. Bildet das Knochenmark von sich aus zu viele Erythrozyten – also ohne durch ein Hormon-Signal dazu aufgefordert zu werden – nennt man das primäre Polyglobulie. Meist liegt dann eine myeloproliferative Erkrankung vor, also ein Zustand, bei dem sich die Stammzellen im Knochenmark ungebremst vermehren. Hierzu zählt die Polyzythämia vera. Diese Erkrankung tritt im Vergleich zu den sekundären Polyglobulien eher selten auf und betrifft v. a. Ältere.
Daneben gibt es noch weitere Ursachen für eine Polyglobulie, zum Beispiel erbliche Genmutationen wie die primäre familiäre Polyzythämie, Erkrankungen des roten Blutfarbstoffs wie die Methämoglobinämie, verschiedene Vergiftungen (z. B. mit Arsen, Blei oder Kupfer) und das Pickwick-Syndrom. Diese sind aber sehr selten.
Klinik
Ein auffallendes Anzeichen für eine Polyglobulie ist die Gesichtsröte. Auf den ersten Blick scheinen die Betroffenen daher eine besonders "gesunde" Gesichtsfarbe zu haben. Oft zeigen sie aber auch blau-rot gefärbte Lippen, die das Zuviel des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin sichtbar machen.
Beschwerden machen vor allem die Durchblutungsstörungen, die durch die zu vielen Blutkörperchen in den Blutgefäßen auftreten. Sie zeigen sich zunächst in allgemeinen Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen oder Ohrgeräuschen. Auch Empfindungsstörungen wie Hautkribbeln oder Ameisenlaufen können hinzukommen. Manchmal schwellen anfallsweise die Finger oder Zehen schmerzhaft an. Sie sind dann auch rot verfärbt. Ein charakteristisches Symptom ist unerklärlicher Juckreiz, der v. a. nach Wasserkontakt, bei Wärme und durch Reibung ausgelöst wird, also zum Beispiel, wenn sich die Betroffenen nach einem warmen Bad mit dem Handtuch abrubbeln.
Alle diese Symptome entstehen schleichend und treten dann immer öfter oder dauerhaft auf.
Verlauf
Im Erkrankungsverlauf nehmen die Durchblutungsstörungen zu.
Das Blut kann so weit eindicken, dass Beinvenen verstopfen. Die Beine sind dann schwer und geschwollen und beim Laufen zwingen zunehmende Schmerzen zum Stehenbleiben. Man nennt das Schaufensterkrankheit, weil die Betroffenen regelmäßig alle paar Schritte – also quasi an jedem Schaufenster – stehen bleiben müssen.
Da das Herz gegen den Widerstand der vielen Blutzellen anpumpen muss, schlägt es schneller und kräftiger. Auch der Blutdruck kann steigen.
Treten die Durchblutungsstörungen im Gehirn auf, zeigt sich das z. B. durch Konzentrationsstörungen oder Sehstörungen.
Bei der Polyzythämia vera kommt es im Krankheitsverlauf zusätzlich zu Oberbauchschmerzen durch eine Milzvergrößerung (Splenomegalie) sowie zu Müdigkeit, Gewichtsverlust und Blutungen.
Komplikationen
Im schlimmsten Fall schreiten die Durchblutungsstörungen so weit voran, dass ein Schlaganfall, Herzinfarkt oder eine Lungenembolie ausgelöst wird. Diese Komplikationen sind lebensbedrohlich und müssen sofort als Notfall behandelt werden.
Die Ärzt*in fragt zunächst ausführlich nach den Beschwerden und führt dann eine körperliche Untersuchung durch, bei der auch der Blutdruck gemessen, das Herz abgehört und der Bauch abgetastet wird. Dann wird eine Blutuntersuchung eingeleitet, die schnell die Erhöhung der Erythrozytenzahl und des roten Blutfarbstoffs anzeigt. Je nach Erkrankungsauslöser kann auch ein Zuviel oder Zuwenig des Hormons Erythropoetin im Blut nachgewiesen werden.
Um den Auslöser der Polyglobulie zu finden, werden dann weitere Untersuchungen eingeleitet, z. B. ein Ultraschall des Bauches, ein Röntgen des Brustkorbs und eine Lungenfunktionsprüfung.
Die Diagnosesicherung der Polyzythämie erfordert eine Knochenmarkuntersuchung. Im Zweifel kann die Polyzythämia vera bei fast allen Betroffenen durch eine molekulargenetische Blutuntersuchung nachgewiesen werden. Hierbei wird eine JAK2-Mutation aufgedeckt, also eine genetische Störung, die für die unkontrollierte Vermehrung der Knochenmarks-Stammzellen verantwortlich ist.
Differenzialdiagnose. Manche Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel und Ohrensausen sind sehr allgemein und können bei unzähligen anderen Erkrankungen auftreten. Andere Symptome der Polyglobulie sind sehr typisch für die Erkrankung, z. B. die Hautfarbe und der charakteristische Juckreiz. Auch das Blut lässt wenig Zweifel an der Polyglobulie. Lediglich eine sogenannte "Pseudoglobulie" bei einem starken Flüssigkeitsverlust kann ebenfalls zu einem scheinbaren Zuviel an Erythrozyten und rotem Blutfarbstoff führen. Dann treten die Symptome aber sehr plötzlich auf und die Hauptsymptome des starken Flüssigkeitsverlust, z. B. durch schweren Durchfall, Schock oder Verbrennung, stehen im Vordergrund. Das Hauptaugenmerk bei der Diagnostik einer Polyglobulie liegt also darin, die auslösende Ursache festzustellen, die wie oben beschrieben von harmlosen Höhenaufenthalten über Lungen- und Herzerkrankungen bis hin zu Tumor- und Knochenmarkserkrankungen reichen können.
Gefährlich werden alle Polyglobulien durch die Durchblutungsstörungen, die im schlimmsten Fall zum lebensbedrohlichen Schlaganfall, Herzinfarkt oder einer Lungenembolie führen können. Als "Erstmaßnahme" wird den Patient*innen deshalb zur Blutverdünnung durch einen Aderlass Blut entnommen und durch Flüssigkeit ersetzt.
Bei sekundären Polyglobulien richtet sich die weitere Behandlung dann nach der auslösenden Ursache. Bei Sauerstoffmangel wird die Therapie gegebenenfalls durch die Gabe von Sauerstoff unterstützt.
Bei der Polyzythämie können regelmäßige Aderlässe und eine medikamentöse Behandlung mit Interferon und/oder Hydroxyharnstoff die Anzahl der Zellen meist über Jahre gut senken. Diese beiden Medikamente hemmen die übermäßige Bildung und Reifung der Blutzellen im Knochenmark. Interferon fördert zusätzlich den Abbau überzähliger Blutzellen. Bei Unverträglichkeit oder ungenügender Wirksamkeit dieser Arzneimittel kommen alternativ andere Medikamente zum Einsatz, z. B. ein JAK2-Inhibitor, der die unkontrollierte Vermehrung der Stammzellen im Knochenmark unterdrückt.
Der Juckreiz lässt sich mit Antihistaminika oder UV-Licht behandeln.
Bei jungen Patient*innen mit Polyzythämia vera wird bei einem schweren Krankheitsverlauf auch eine Stammzelltransplantation in Betracht gezogen. Das heißt, dass die kranken körpereigenen Stammzellen zunächst durch eine Chemotherapie vollständig zerstört werden und anschließend gesunde Stammzellen übertragen werden, z. B. von gesunden Geschwistern oder anderen Familienmitgliedern oder auch von Fremdspender*innen.
Die Prognose einer Polyglobulie hängt sehr von der auslösenden Ursache ab. Bei Raucher*innen kann schon eine Rauchentwöhnung helfen, um die Anzahl der roten Blutkörperchen wieder zu normalisieren. Chronische Lungen- und Herzerkrankungen sind dagegen oft nicht heilbar. Bei Tumorerkrankungen ist die Art des Tumors ausschlaggebend für die Prognose.
Die Polyzythämia vera lässt sich meist über viele Jahre gut kontrollieren und die Betroffenen können ein fast normales Leben führen. Die Erkrankung kann jedoch in eine Leukämie übergehen.
Unbehandelt beträgt die Überlebenszeit der Patient*innen wegen der lebensgefährlichen Gefäßverschlüsse nur wenige Jahre.
Was Sie selbst tun können
Rauchentwöhnung. Wie sehr das Rauchen die Gesundheit gefährdet, ist hinlänglich bekannt. Trotzdem fällt es den meisten Raucher*innen schwer, ihre Nikotinsucht in den Griff zu bekommen. Unterstützen kann Sie dabei ein Rauchentwöhnungsprogramm. Dieses umfasst neben verschiedenen Nikotinersatzprodukten auch ein Nichtrauchertraining (eine Form der Verhaltenstherapie) und die Schulung in alternativen Methoden zur Bedürfnisbefriedigung. Lassen Sie sich von Ihrer Ärzt*in und Apotheker*in dazu beraten.
Risikominimierung. Um das Risiko eines Gefäßverschlusses zu reduzieren, können Betroffene aktiv mitwirken. Bewegen Sie sich regelmäßig und vermeiden Sie langes Sitzen, um den Kreislauf in Schwung zu halten. Trinken Sie immer ausreichend Flüssigkeit, um ein noch stärkeres Eindicken des Blutes zu verhindern. Übergewicht sollte durch eine kontrollierte Gewichtsabnahme normalisiert werden.
Prävention
Außer durch eine allgemein gesunde Lebensweise lassen sich einer Polyglobulie und Polyzythämie nicht gezielt vorbeugen. Die Polyzythämia vera ist zwar nicht vererbbar, aber in manchen Familien treten myeloproliferative Erkrankungen besonders häufig auf. Wenn mehrere Familienmitglieder von einer Blut- oder Krebserkrankung betroffen sind, empfiehlt sich daher eine genetische Beratung in einer humangenetischen Praxis.