Schulterverrenkung (Schulterausrenkung, Schulterluxation): Auskugeln des Schultergelenks zwischen Schultergelenkpfanne und Oberarmkopf, oft beim Sturz auf den nach hinten ausgestreckten Arm. Kein Gelenk ist häufiger von einer Verrenkung betroffen als das Schultergelenk. Bemerkbar macht sich die Ausrenkung durch starke Schmerzen beim Versuch, den Arm im Schultergelenk zu bewegen.
Um Folgeschäden zu verhindern, ist es wichtig, das ausgekugelte Gelenk schnellstmöglich wieder einzurichten. Dafür gibt es mehrere geschlossene Verfahren, in manchen Fällen muss jedoch auch operiert werden. Eine erstmalige Schulterverrenkung ohne wesentliche Begleitverletzungen heilt meist ohne bleibende Folgen, bei jungen Patient*innen ist allerdings die Gefahr einer erneuten Schulterverrenkung hoch.
Hinweis: Die Schulterverrenkung ist ein Notfall, die Betroffenen müssen so schnell wie möglich medizinisch versorgt werden. Als erste Hilfe ist der Arm mit gebeugtem Ellbogengelenk ruhig zu stellen, z. B. in einem Dreieckstuch oder mithilfe einer breiten Bandage. Der Arm darf weder bewegt noch durch einen Laien eingerichtet (eingerenkt) werden!
- Starke Schmerzen beim Versuch, den betroffenen Arm im Schultergelenk zu bewegen
- Haltung des Oberarms in leicht abgespreizter, nach vorn geführter und nach außen gedrehter Stellung bei vorderer Schulterverrenkung
- Bei hinterer Schulterverrenkung sog. Hinkelsteinhaltung – der Arm wird an den Körper gezogen und nach innen gedreht, so als würde man wie Obelix einen Hinkelstein tragen
- Federnde Fixation: Der Arm wird nach jeder Bewegung sofort in eine halbwegs erträgliche Stellung zurückgeführt
- Sicht- und tastbare Delle in der Schulterkontur, seitlich und unterhalb der Schulterhöhe (Epaulettenphänomen).
Sofort, wenn
- sich oben genannte Beschwerden zeigen.
Jede zweite Gelenkausrenkung beim Menschen ist eine Schulterverrenkung, insgesamt sind pro Jahr etwa 15 von 100.000 Deutschen davon betroffen, Frauen etwa dreimal so häufig wie Männer. Aus zwei Gründen ist die Schulterverrenkung so häufig: Zum einen ist die Schultergelenkpfanne klein und flach und besitzt dadurch nur eine geringe Kontaktfläche zum relativ großen Oberarmkopf. Damit sich der Arm in der Schulter in alle Richtungen gut bewegen kann, ist der Oberarmkopf außerdem in seiner Position nur wenig gesichert, v. a. durch relativ nachgiebige Strukturen, wie Gelenkkapsel und Bänder, sowie durch die Sehnen und Muskeln der Rotatorenmanschette.
Ursachen und Risikofaktoren
Häufigste Ursache von Schulterverrenkungen sind (unfallbedingte) Stürze, bei jüngeren Menschen vor allem beim Sport. Ältere Menschen fallen aufgrund ihres erhöhten Sturzrisikos dagegen im Alltag leicht auf ihre Schulter, z. B. indem sie über eine Teppichkante stolpern oder an einem Möbelstück hängen bleiben.
In 95 % der Fälle ist der Oberarmkopf, die Kugel des Schultergelenks, nach vorne oder nach vorne unten ausgekugelt. Auslöser ist z. B. ein Sturz auf den nach hinten ausgestreckten Arm, ein starker Schlag auf die Schulterrückseite oder eine übermäßige Hebelwirkung auf den angehobenen und nach außen oder hinten geführten Arm, z. B. im Rahmen einer Rempelei oder eines Sturzes beim (Fußball-)Sport. Nur in 5 % der Fälle renkt sich der Oberarm nach hinten aus, meist durch einen direkten Schlag von vorn gegen die Schulter.
Begünstigt werden erstmalige oder wiederholte Schulterverrenkungen durch folgende Risikofaktoren:
- Bleibende Schäden nach einer vorangegangenen Schulterverrenkung (posttraumatisch rezidivierende Schulterverrenkung)
- Altersbedingte Schwächung des Kapsel-Band-Apparates
- Anlagebedingte Anomalien des Kapsel-Band-Apparates oder der Schultergelenkpfanne
- Angeborene Bindegewebsschwäche wie beim Marfan-Syndrom oder beim Ehler-Danlos-Syndrom.
Habituelle Schulterverrenkung
War eine Schulter schon mehrfach ausgerenkt, führen Überdehnung und Risse der Kapsel oft zu anhaltenden Beschwerden und zur Schulterinstabilität. Häufig reichen dann bereits ausladende Bewegungen, wie z. B. gleichzeitiges Heben und Außendrehen des Arms, um die Schulter auszurenken. Ab dem dritten Ereignis innerhalb kurzer Zeit spricht die Ärzt*in dann von einer "gewohnheitsmäßigen", also habituellen Schulterverrenkung. Sie kommt auch gelegentlich ohne vorangehende Verletzung als Folge einer anlagebedingten Schulterinstabilität vor.
Komplikationen
Beim Auskugeln des Oberarmkopfs entstehen oft weitere Verletzungen des Schultergelenks, insbesondere Risse in der Gelenkkapsel und der Rotatorenmanschette. Zusätzliche Abrisse der knorpeligen Gelenklippe am vorderen unteren Rand der Schultergelenkpfanne heißen Bankart-Läsion. Verletzungen an Gelenkkapsel, Rotatorenmanschette und insbesondere Gelenklippe vermindern die Gelenkstabilität und begünstigen damit das Auftreten späterer, wiederholter Verrenkungen. Manchmal treten als Begleitverletzung auch Knochenabrisse und -brüche am Oberarmkopf oder – sehr selten – an der Schultergelenkpfanne auf.
Bei jeder 10. Patient*in wird durch die Schulterverrenkung der N. axillaris verletzt. Dieser Nerv innerviert mit seinen motorischen Fasern zwei Schultermuskeln, den M. deltoideus und den M. teres minor. Außerdem leitet er über seine sensiblen Fasern die Gefühlsempfindung aus dem äußeren Bereich der Schulter (über dem M. deltoideus) zum Gehirn. Eine Schädigung des N. axillaris zeigt sich darin, dass das Heben und Auswärtsdrehen des Oberarms erschwert ist, häufig kommt es auch zu Kribbeln oder Taubheitsgefühl an der Außenseite von Oberarm und Schulter.
Anhand des typischen Beschwerdebilds stellt die Ärzt*in ihre Verdachtsdiagnose, meist kann sie die leere Gelenkpfanne sowohl sehen als auch tasten. Durch die Delle unterhalb des Schulterdaches ähnelt die Schulter von vorne einer Epaulette, weshalb die Ärzt*innen hier auch vom Epaulettenphänomen sprechen. Röntgenaufnahmen der Schulter sichern den Verdacht und klären, ob knöcherne Begleitverletzungen vorliegen.
Um eine Nerven- oder Gefäßverletzung nicht zu übersehen, wird der sogenannten DMS-Status geprüft, d. h. die Durchblutung, die Motorik und die Sensibilität des betroffenen Arms. Dazu fühlt sie z. B. den Puls, beurteilt die Nagelbettdurchblutung, lässt die Patient*in die Finger bewegen und streicht mit einem feinen Pinsel oder einer Nadel über die Haut von Hand und Fingern.
Da bei einer Schulterverrenkung der oben genannte N. axillaris besonders oft Schaden nimmt, muss vor allem die Empfindlichkeit über der äußeren Schulter geprüft werden. Auch das Einrenken selbst gefährdet den Nerven, weshalb die Sensibilität danach erneut getestet wird.
Durch Ultraschall, CT oder Kernspin lassen sich Verletzungen der Weichteile (Kapsel, Rotatorenmanschette) nachweisen.
Differenzialdiagnosen: Zu ähnlichen Beschwerden kommt es auch beim Oberarmkopfbruch oder anderen Verletzungen des Schultergürtels.
Eine ausgekugelte Schulter muss so schnell wie möglich wieder eingerichtet werden, damit es durch den verschobenen Oberarmkopf nicht zu (weiteren) Schäden an Gelenkkapsel, Rotatorenmanschette, Nerven oder Blutgefäßen kommt. Weil ohne Röntgen oder Ultraschall ein gleichzeitiger Oberarmbruch nicht ausgeschlossen werden kann, sollte das Einrichten nur in der Klinik und nicht etwa "blind" im Rettungswagen erfolgen. Eingerichtet wird die ausgekugelte Schulter durch Manipulationen am Patientenarm (sogenannte geschlossene Reposition) oder operativ im Rahmen einer Gelenkspiegelung oder einer offenen Operation.
Geschlossenes Einrichten
Zum geschlossenen Einrichten spritzt die Ärzt*in bei Bedarf muskelentspannende und schmerzlindernde Medikamente (Analgosedierung). Eine ausreichende Schmerzlinderung ist wichtig, da die Patient*in sonst unwillkürlich gegenspannt und das Einrichten erschwert. Um solch eine Gegenspannung zu verhindern, bietet sich als Alternative auch eine kurze Vollnarkose an.
Zum geschlossenen Einrichten der Schulter gibt es mehrere Möglichkeiten, bei denen die Patient*in entweder sitzt oder in Bauch- oder Rückenlage liegt. Eine häufig angewandte Methode ist z. B. das Verfahren nach Stimson. Hier liegt die Patient*in auf dem Bauch, ihre verletzte Schulter hängt – leicht erhöht durch ein Kissen – über den Rand der Liege herab. Durch 2 Methoden gelangt der Oberarmkopf wieder in die Pfanne:
- Es wird ein bis zu 7 kg schweres Gewicht am Arm befestigt und abgewartet. Durch den langsamen, aber steten Zug unter Muskelentspannung rutscht der Oberarmkopf nach 20 bis 30 Minuten wieder in die Gelenkpfanne.
- Die Ärzt*in kniet neben der Liege und zieht leicht und stetig unter leichten Drehbewegungen am Oberarm der Patient*in, bis der Oberarmkopf in die Pfanne gleitet.
- Beim Verfahren nach Milch liegt die Patient*in auf dem Rücken. Die Ärzt*in beugt den ausgekugelten Arm im Ellenbogengelenk, führt ihn unter leichter Außendrehung nach außen, hebt ihn und legt ihn in Über-Kopf-Lage auf der Liege ab. Durch diese Bewegung rutscht der Oberarmkopf oft in die Pfanne, wenn nicht, zieht die Ärzt*in den Oberarm nochmals vorsichtig kopfwärts.
- Die früher bevorzugte Einrenkung nach Hippokrates oder die Einrenkung nach Arlt werden heute nicht mehr empfohlen, da bei ihnen die Gefahr der Nervenschädigung größer ist als bei den oben genannten (und anderen gebräuchlichen) Verfahren.
Erfolgskontrolle. Ist der Arm wieder eingerichtet, merkt das deie Patient*in daran, dass – nach einer kurz auftretenden Schmerzspitze – der Schmerz nunmehr verschwunden ist. Die Ärzt*in kann das "Einkugeln" meist direkt spüren oder als Schnappen bzw. Reiben hören. Auch das Röntgenbild zeigt, ob der Oberarmkopf wieder in seiner Pfanne sitzt. Um sicherzustellen, dass bei der Prozedur keine Gefäße oder Nerven verletzt wurden, prüft die Ärzt*in erneut den oben genannten DMS-Status.
Behandlungskomplikationen. Wichtige Komplikationen beim Einrichten einer Schulterverrenkung ist die Schädigung des N. axillaris. Bei manchen Methoden (z. B. bei der oben nicht näher aufgeführten Methode nach Kocher) droht durch das Einrenken vor allem bei älteren Patient*innen ein Bruch des Oberarmknochens.
Operativ
Eine operative Behandlung empfiehlt sich vornehmlich bei begleitenden Knochen- oder Weichteilverletzungen, etwa einem Bruch oder Abriss des Gelenkpfannenrands, einem Riss in der Gelenkkapsel oder in der Rotatorenmanschette. Außerdem wird die Operation erforderlich, wenn sich die Schulter mit den oben genannten konservativen Verfahren nicht einrichten lässt. Bei habituellen Schulterverrenkungen raten die Ärzt*innen meist zu einer Operation, wenn sie mindestens dreimal in einem Jahr ohne vorangegangenen Unfall auftreten.
Operiert wird entweder offen oder im Rahmen einer Gelenkspiegelung (arthroskopisch). Ziel ist, das Gelenk wiederherzustellen und zu stabilisieren. Typische Maßnahmen dafür sind die Raffung der Gelenkkapsel oder eine Naht der Rotatorenmanschette.
Nachbehandlung
Ruhigstellung. Nach dem Einrichten stellt die Ärzt*in die verletzte Schulter in einem Schulter-Arm-Verband ruhig (z. B. mit einem Gilchrist-Verband oder einer Außenrotationsorthese). Bei geschlossener Einrichtung reicht dazu oft eine Woche, bei der operativen Versorgung ist manchmal eine Ruhigstellung bis zu 6 Wochen erforderlich.
Schmerztherapie. Bestehen noch Schmerzen, verordnet die Ärzt*in Schmerzmittel wie Ibuprofen (z. B. Dolgit® oder Ibuprofen AbZ) oder auch Metamizol (z. B. Novalgin® oder Novaminsulfon-ratiopharm®).
Physiotherapie. Noch während der Ruhigstellungsphase beginnt eine vorsichtige krankengymnastische Übungsbehandlung; zunächst mit passiven, später mit aktiven Bewegungen von Ellbogen-, Hand- und Fingergelenken. Schließlich kommen Übungen zum Muskelaufbau des Schultergürtels dazu. Meist ist nach etwa 8–12 Wochen eine normale (sportliche) Belastung des betroffenen Gelenks erlaubt.
Spätfolgen
Nach einer Schulterverrenkung kann es durch eine lange Ruhigstellung des Gelenks zur Schrumpfung der Gelenkkapsel mitsamt Bewegungseinschränkung der Schulter kommen (sekundäre Schultersteife). Eine weitere Spätfolge ist die Entwicklung einer Schultergelenkarthrose (Omarthrose) durch Verletzung der knöchernen Strukturen. Bei manchen Patient*innen zeigt sich auch eine Überbeweglichkeit des Schultergelenks, die sich in dem Gefühl der Instabilität und Schmerzen äußern kann.
Die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Schulterverrenkung ist vor allem bei jungen Patient*innen hoch, die Mehrzahl der Betroffenen unter 30 Jahren erleidet nach der ersten Schulterverrenkung eine weitere. Wurde die Verrenkung operativ versorgt, ist die Rezidivrate jedoch deutlich niedriger.
Was Sie selbst tun können
Muskelaufbau. Um weiteren Schulterverrenkungen vorzubeugen, gilt es, die stabilisierende Schultermuskulatur zu kräftigen. Besonders bedeutend ist dabei das Training des Unterschulterblattmuskels (M. subscapularis) und des Brustmuskels (M. pectoralis), da die Sehnen dieser Muskeln den vorderen Anteil der Schultergelenkkapsel stabilisieren. Eine häufig dafür empfohlene kräftigende Übung ist der Unterarmstütz (das sind Liegestützen, bei denen man sich nicht auf die Hände, sondern auf die Unterarme stützt).
Nicht Autofahren. Ein Fahrzeug zu lenken ist meist nach etwa 4 bis 5 Wochen wieder möglich. Wer mit ruhig gestelltem Arm selbst fährt und einen Unfall verursacht, riskiert Probleme mit seiner Haftpflichtversicherung.
Sport. In der Regel gilt etwa 2 Monate lang nach einer Verrenkung ein Sportverbot. Schulterbelastende Sportarten dürfen frühestens ein halbes Jahr später wieder aufgenommen werden, besser ist, gänzlich darauf zu verzichten. Dazu gehören typischerweise Handball, Speerwerfen, Wasserball und andere armbetonte Sportarten. Aber auch Kontaktsportarten wie Fußball und Rugby gefährden die Schulter und können eine erneute Ausrenkung provozieren.
Schulterbelastung reduzieren. Um einer erneuten Schulterverrenkung vorzubeugen, sollten schulterbelastende Tätigkeiten vermieden werden. Dazu gehören längere Arbeiten in Schulter- und Kopfhöhe, vor allem, wenn dabei schwere Lasten getragen werden.